Академик Фролов Иван Тимофеевич

Deutsch

Manfred Buhr

Anwalt der Vernunft

Durch den Tod von Akademiemitglied Ivan T. Frolov habe ich einen Freund, Ratgeber und Vertrauten verloren. Uber Jahrzehnte hinweg haben wir ohne Unterbrechungen oder Storungen zusammen gearbeitet und waren mehr als freundschaftlich verbunden. Unsere Bewegungen waren durch Menschlichkeit, Offenheit und gegenseitige Hilfe gekennzeichnet, unsere Gesprache ohne Tabus. Dies war die Konstante unserer Beziehungen. Welche Tatigkeiten Wanja auch ausubte, und ob waren viele und sehr unterschiedliche im Laufe der Zeit, im Vordergrund stand bei ihm immer seine Menschlichkeit, sein Eintreten fur das Wohl des Menschen niemals aber war es seine Funktion.

Wania war auf Unabhangigkeit, Selbstandgkeit und eigenes Urteilen bedacht. Er ging immer auf Distanz zur Lobhudelei und Stonrednern des Tages.

Wanja Bestreben nach Unabhangigkeit und Distanz war theoretisch untermauert durch sein Festhalten am Begriff der Vernunft. Dieses Bestreben Wanjas kann mit Kants letzten Satzen aus dem ersten Buch seiner “Anthropologie in pragmatischer Hinsicht” beschrieben werden: “Weil am Ende des ganzen Gebrauchs des Erkenntnisvermogens, zu seiner eigenen Beforderung, selbst in der theoretischen Erkenntnis, doch der Vernwnft bedarf, Welche Regel gibt, nach welcher es allein befordert werden kann: so kann den Anspruch, den die Vernunft an dasselbe macht, in die drei Fragen zusammenfassen: Was will ich? (fragt der Verstand), Worauf kammt es an? (fragt die Urteilskraft), Was kommt heraus? (fragt die Vernunft). Die Menschen sind in der Fahigkeit der Beantwortung aller dieser drei Fragen sehr verschieden”. Wanja bemuhte sich alle drei Fragen im Zusammengang zu bedenken, so dass auf ihn jene Merkmale zu treffen, die Kant “als zur Weisheit fuhrend” der eben von ihm zitierten Passage erlauternd hinzufugt: “1. Selbst denken.2. Sich in der Begegnung mit Menschen in die jedes anderen zu denken. 3. Jederzeit mit sich selbst einstrummig zu donken.” Wanja bemuhte sich in seiner Lebensweise und seinem Denken diese drei Merkmale zusammen zu praktizieren.

Und so war es kein Zufall, dass Wanja in seiner wissenschaftlichen Arbeit das Problem des Menschen in den Mittelpunkt stellte, und zwar nicht nur philosophisch, sondern betont interdiziplar. Daruber hinaus stellte er das Problem des Menschen nicht nur in das Zentrum seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit, sondern verankerte es auch wissenschaftsorganisatorisch durch die Grundung eines Instituts zur Erforschung des Menschen an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Grundung dieses Institutes war eine verdienstvolle Tat, weil sie in dieser Konseguenz weltweit einmalig war, und sich dem unzulanglichen “anthropologischen Boom” (Frolov), der international vorherrschte, entgegensetzte. Den pessimistischen Schlussfolgerungen der anthropologischen Versuche stellte Wanja unbeirrt einen starken Optimismus entgegen, den er auf den Bogriff der Vernunft grundete. Spatestens in diesem Zusammenhang muss Wanja als ein Intellektueller europaischen Formats bezeichnet werden. Er war als Mensch Wissenschaftler, handelte und verhielt sich so. Damit waren Konflikte vorprogrammiert, die er oft in leidvoller Weise durchstehen musste, vor allem in seinem letzten Lebensjzhrehnt. Durch seinen Tod kann ich ihm dafur meinen Dank und meine Bewunderung nur nachrufen. Und auch dafur muss ich ihm danken, dass er Vergagenheit, Gegenwart und nicht zuletzt Zukunft zusammen dachte. Mit seinem daraus resultierenden optimistischen Denkens war er in der Lage, die Hurden der Gegenwart zu uberschreiten, was “vom Mute des Erkennens” (Hegel) zeugte. Von hier aus gesehen bedeutet der Tod Wanja nicht nut Trauer, sondern auch Verlust, der schwer wettzumachen ist. So bleibt die Pflicht, Wanjas Menschlichkeit und universales Denken wachzuhalten und weiterzufuhren.

Wenn wir im Vorstehenden von den menschlichen und wissenschaftlichen Qulitaten Wanjas gesprochen haben, dann darf eines nicht vergessen oder ubersehen werden. Diese Qualitaten Wanjas waren in dieser Form nicht moglich gewesen, wenn ihm nicht Galja zur Seite gestanden hatte: mit ihrer Liebe, ihrem hingebungsvollen Verstandnis und dem Zurucknehmen ihres eigenen Ich’s. Galja war das zweite Ich von Wanja. Sie sorgte fur die notwendige Harmonie, die Wanja als sensibler Mensch brauchte, um den Widerwartigkeiten der Zeit zu widerstehen. Ich betrachte es als Gluck, diese Harmonie uber Jahrzehnte miterlebt zu haben.

Um die bisher allgemein hervorgehobenen menschlichen und wissenschaftlichen Verdienste von Ivan T. Frolow zu utermauern mochtich ihn selbst zuWort kommen lassen. Ich zitiere aus einer Arbeit von ihm, die er in das Buch “Das geistige Erbe Europas”(Neapel 1994) unter dem Titel “Koplexe Erforschung des Menchen” einbrachte. Diese Belegstellen aus dem von mir herausgegebenen Buch demonstrieren besser den Radius von Wanjas universalem Denken als jeder Versuch, dieses mit eigenen Worten nachzuvollziehen.

“Das Problem des Menschen ist ein klassisches Problem der Weltgeschichte der Philosophie. Seit ihren Anfangen im alten Griechenland nahm die Philosophie nicht nur eine solche Gestalt des Menschen wahr, die diese oder jene Epoche der Geschichte gepragt hatte, sondern entwickelte auch ein bestimmtes Ideal, eine ubergreifende Idee vom Menschen, die als Zielfunktion bei der philosophischen Beschaftigung mit dem Menschen und seiner Zukunft diente. Die Erforschung des Problems des Menschen und seiner Zukunft erfordert heute eine komplexe Vorgehensweise (Methodologie). Diese besagt, dass die Wissenschaft den Menschen und seine Perspektiven nicht nur im Hinblick auf einzelne Aspekte (so wichtig sie auch sein mogen) zu untersuchen hat, sondern in erster Linie als ein dialektisch zusammenhangendes System, wobei dieses System in seiner Dynamik, seiner Mannigfaltigkeit und seiner Entwicklung zu verfolgen ist. Nur unter dieser Bedingung kann man sich Hoffnungen darauf machen, dass die ale Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse hervorgehenden Schlussfolgerungen eine reale Bedeutung erlangen und zur Grundlage fur praktische Empfehlungen bei der Gestaltung der Lebenstatigkeit und der Entwicklung des Menschen werden. Der globale Charakter des Problems selbst zwingt dazu, nach universalen philosophischen Herangehensweisen zu suchen, was sowohl zu Entdeckungen, als auch zu tiefen Enttauschungen fuhren kann”.

“In unserer Situation tritt unverkennbar das Bedurfnis zutage, die Wissenschaft und den Menschen als Hauptforschungsobjekte in Schutz zu nehmen sowie das Programm der Wissenschaftlichen Erforschung des Menschen, seine sozialen und humanistischen Massstabe, genauer und allseitiger zu bestimmen”.

“Im Grunde genommen drangt sich dem Menschen immer nachdrucklicher das Anliegen auf, sich selbst als Gattung zu erhalten. Dies gerade sollte kunftig die Losung des Problems der Vervollkommnung des Menschen entsprechend einnem Ideal ermoglichen, welches der Mensch im Laufe der geschichte in Sagen und Utopien geschaffen hat und fur welches er kunftig im Ergebnis der Synthese von Wissenschafft und Kunst, Vernunft und Gute, aber auch Schonheit wird”.

“Es ist schwer vorauszusehen, was die durch die Wissenschaft eroffneten Moglichkeiten dem Menschen bietten konnen, welche neuen Krafte er in Wirkung setzen wird wie sich das auf das Leben und die Zukunft des Menschen auswirken wird. Musste man nicht jetzt schon alle Anstrengungen unternehmen,obwohl wir erst am Anfang des Weges zu neuen unbekannten Geheimnissen stehen? Wie der Vater der Kybernetik N. Wiener, bemerkt hat, der grosste Fehler der Voraussagen sei eine viel zu enge Projezierung in die Zukunft in bezug auf die heutigen Moglichkeiten der Wissenschaft.

Wenn es um die Gegenwart geht, dann besteht die Aufgabe der Wissenschaft, so wie ich sie verstehe, darin, neue Moglichkeiten des Menschen, die insbesondere seine psychophysische Entwicklung betreffen, nicht nur zu erforschen sowie die ihn bedrohenden Richtungen beim Experimentieren zu vermeiden, sondern auch jegliche die wissenschaftliche Suche begleitenden Spekulationen und Mystifikationen zu verdrangen.”

Das neue Ethos der Wissenschaft setzt eine Struktur voraus, die den Menschen, seine freie allseitige Entwicklung in ihren Mittelpunkt stellt. Sie schliesst eine immer deutlicher werdende Selbstempfindung des Menschen als eines untrennbaren Bestandteils der Menschheit ein.

Nur eine solche humanistische Orientierung schafft eine feste Grundlage fur die Zukunft des Menschen und die menschliche Kultur als Ganzes. Der letzteren kommt auch eine breitere Bedeutung zu, weil Humanismus nicht mit Wissenschaft allein verbunden ist. Gleichermassen gefahrlich sind in dieser Hinsicht sowohl die Verabsolutierung der Bedeutung der Wissenschaft im Leben des Menschen und der Menschheit, in der Entwicklung der zukunftsorientierten humanistischen Kultur, als auch die Versuche, die Wissenschaft herabzusetzen, sie ihres Nimbus zu entkleiden und als antihumane Kraft hinzustellen. Ihren eigentlichen Sinn erschliesst sich die Wissenschaft erst im Zuzammenhfng mit anderen Formen der menschlichen Tatigkeit , die eine materielle und geistige Kultur der Menschheit bilden.

Die Kultur braucht naturlich keine Abmachung mit der Wissenschaft nach der Faustschen Art, deren Damon gar kein Verlangen nach der menschlichen Seele, dem Gewissen und der Freiheit des Menschen hegt. Sittliche humanistische Grundlagen der Wissenschaft und der ganzen menschlichen Kultur gewinnen heute immer mehr an Bedeutung und werden sie auch weiterhin bewahren, denn ohne all das bleibt nur Finsternis der Unkultur und des Nichtseins, die geistige und korperliche Katastrophe der Menschheit.”

“Man darf die realistische Behauptung aufstellen: eine schone und gerechte Zukunft haben der Mensch und die Menschheit vor sich, wenn die ihnen eigene Vernunft und Humanitat triumphieren und die menschliche Gesellschaft in ihrem Vorwartsstreben begleiten. Die moralisch-ethische Bedeutung dieser Bechauptung ist erhaben, den sie kann als gewaltige Antriebskraft zur weiteren Erkenntnis des Wertes fur menschliches Leben, Vernunft und Humanitat des Menschen dienen”.

“Die Weltgeschichte ist mit den Worten Hegels kein Schauplatz fur das Gluck. Allerdings ist er auch nicht fur das Ungluck vorbestimmt. Es ist notig, das Denken und Handeln in den Dienst des Menschen und der Menschheit zu stellen und der Weg dazu fuhrt uber Errichtung einer humanistischen und demokratischen Gesellschaft, die dem geistigen Erbe Europas verpflichtet ist.”

Die angefuhrten Passagen aus dem Artikel von Ivan T. Frolov lesen sich wie ein Vermachtnis. Sie sollten als solches genommen werden, um sein Grundanliegen nicht in die Vergessenheit zu tragen. Wanja hat uns auch nach seinem Tod noch Wichtiges und Zukunftsweisendes zu sagen. Sein Wirken und Werk mussen deshalb wachgehalten und weitergegeben werden. Diderot sagte: “Durch Vernunft, nicht aber durch Gewalt soll man die Menschen zur Wahrheit fuhren.” Wanja hat sich in seinem Leben an diesen Leitfaden von Diderot gehalten. Dafur gebuhrt ihm Dank und Anerkennung, die uns die Pfilicht, sich seiner immer zu erinnern, auferlegen.

LEBEN UND ERKENNTNIS

IWAN T. FROLOV

Lebenund Erkenntnis,so heisst eines der letzten zusammenfassenden Werke, die ich verfasst habe, und in diesen zwei Worten ist wohl die Gesamtheit der Fragen enthalten, die mich als Philosophen wahrend meiner ganzen Tatig-keit tiefgehend beschaftigt hat und mich unaufhorlich bis jetzt bewegt. Selbstverstandlich ist das Problem, das sich auf das Leben und seine Er-kenntnis bezieht, wie ich meine, im buchstablichen Sinn grenzenlos und un-erschopflich, auch im Rahmen irgendeines einzelnen Gesichtspunktes, der zur Eriauterung ihrer Deutung, sei es in der Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft, fuhrt. Indessen hat mich stets gerade der philosophische As-pekt dieses Problems interessiert, der sich zwar nicht anders als auf die Resultate sonstiger Formen der Erkenntnis des Lebens stutzt, doch zu glei-cher Zeit eine Gesamtheit von spezifischen Eigenschaften besitzt, die — wie ich meine — damit zusammenhangt, dass dieser Aspekt alle Fragen vom Stand-punkt der Grundcharakteristik der Einstellung des Menschenzur Welt beurteilt. Hier eroffnen sich uns neue, geheimnisvolle Gebiete in den tiefsten Schichten der Erkenntnis, die nicht immer dem menschlichen Verstand zuganglich sind.

Die philosophische Analyse der Gesetzmassigkeit der Erkenntnis des Lebens, der Besonderheiten ihrer Natur, der Richtung und der Wege ihrer weiteren Entwicklung kann, meiner Ansicht nach, nicht zur Ausserung epistemologischer, methodologischer und logischer Grundlagen der biologischen Erkenntnis fuhren, zur Klarlegung ihrer Prinzipien und Methoden, ihrer heuristischen Moglich-keiten und Grenzen, ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Die biologische Erkenntnis (wie ubrigens auch jede andere) ist ein zutiefst sozialer Prozess der Wechselwirkung des Subjekts und des Objekts, in dessen Verlauf wahrend Jahrhunderten seiner Entwicklung komplizierte sozial-ethische Forschungsprinzipien erarbeitet wurden. Die Bedeutung dieser Prinzipien wird besonders heutzutage urn so grosser, als wir Zeugen neuer und immer neuerer Erfolge der Malekularbiologie, der genetischen Technik, der wissenschaftlichen Erkenntnis des Menschen im ganzen werden. Dieses stellt die Philosophen vor die Kardinalfrage, wie und in welchen Fonnen die philosophische Erkenntnis des Bereiches des Lebens uberhaupt moglich ist.

Wahrend eines Vierteljahrhunderts suchte ich, meine Antwort auf diese Frage zu finden, und dieses Bemuhen fand in einer Reihe meiner Aufsatze und Bucher ihren Niederschlag. Es ist jedoch zu sagen, dass in diesen Arbeiten der Akzent in der Hauptsache auf den epistemologischen und methodologischen Problemen lag. Das Prufen der biologischen Erkenntnis in der Gesamtheit ihrer wissenschaftlichen, methodologischen und axiologischen Aspekte wurde von mir haupsachlich in den letzten Jahren vorgenommen.

Indem wir uns diesen philosophischen Problemen zuwenden, sehen wir, dass die Wissenschaft uber das Leben in immer grosserem Masse den Menschen zum Hauptobjekt ihrer Forschung macht. Damit werden neue Mbglichkeiten einer Lenkung der Prozesse seiner Lebenstatigkeit eroffnet, was dem Menschen er-lauben wird, sich besser an die neuen Verhaltnisse und Erfordemisse der jetzigen Zivilisation anzupassen, seine psychischen und intellektuellen Moglichkeiten zu erweitem und zur Entwicklung seiner angeborenen Gaben beizutragen.

Immerhin ist dieser Weg nicht der einzige in seinen Folgen fur den Menschen und kann nicht mit Erfolg zuriickgelegt werden, wenn man nur vom Standpunkt der Wissenschaft und Technologie, ohne Berucksichtigung ihrer sozialen Rolle, ausgeht. Wir wissen, dass der gegenwartige wissenschaftlich-technische. Fortschritt nicht nur neue, gunstige Moglichkeiten fur die Entwicklung des Menschen (des Anwachsens der Arbeitsproduktivitat, des Fortschrittes der Medizin usw.) mit sich gebracht hat.

Es zeigte sich auch eine Reihe negativer Erscheinungen, die in immer grosserem Masse zu einer gewissen globalen Gefahrdung des zukunftigen Menschen wird.

Die Zuspitzung der globalen Probleme hat eine Gefahrdung nicht nur fur die Umwelt des Menschen geschaffen, sondem hat auch eine Gefahr der negativen Veranderungen der Genetik und der Psyche, im allgemeinen der Gesundheit und der eigentlichen Existenz des Menschen erzeugt. Mit anderen Worten, wachst die Gefahr einer Zerstorung des Menschen «von innen». Der Bereich der Fragen, die ait dem Anwachsen der Gefahren zusammenhangen, welche den Menschen «von aussen» und «von innen» bedrohen, werden heute umfassend erortert; mehr als das fuhrt die Erorterung dieser Fragen zu scharfen Diskussionen. Naturlicherweise ist daher eine ganze Reihe meiner Arbeiten der Analyse der genannten Probleme gewidmet.

Von Anfang an folgte ich in diesen Arbeiten einer Idee: Die globalen Probleme.und ihre Losung durfen von der allgemeinen sozialen und menschlichen nicht getrent werden, zu diesen gehoren auch die moralisch-humanistischen,die eine immer grossere Bedeutung im Leben der Menschheit eriangen. Diesen letzten Problemen wende ich gegenwartig im wesentlichen meine Aufmerksamkeit zu, in der Annahme, in den nachsten Jahren eine Reihe von Arbeiten uber die Ethik der Wissenschaft, Uber einen neuen, echten Humani sinus, eine Philosophic der Moral vom Standpunkt des Marxisnus u.a. abzuschliessen.

Die dabei entstehenden Probleme kennen keine Grenzen; in einem gewissen Sinn stehen s-ie ausserhalb einer konkreten Zeit: Es sind «ewige» Probleme, und die Betrachtungen daruber stellen die Tradition der geistigen Entwicklung der Menschheit dar, die seit den altesten Zeiten besteht. Das ist die allgemeine Tradition der humanistischen Kultur der Menschheit.

Die Gesamtheit der spezifischen Eigenschaften der sozial-ethischen und moralisch-humanistischen Problematik besteht auch darin, dass sie keine eindeutigen, fur alle Zeiten gultigen Entscheidungen besitzt. Hier gibt es keine in eine Richtung gehende Bewegung der Erkenntnis, bei der sozusagen jede nachfolgende Entscheidung die vorausgehende erga-nzt. Deshalb kann sich fur uns das moralisch-humanistische Denken, z.B. eines Sokratesoder Kant’s, in vielen Fallen als aktueller klingend erweisen, als viele Maximen der heutigen Denker.

Die besondere Bedeutung der moralisch-humanistischen Problematik, wie vieler anderer Erscheinungen der menschlichen Kultur, anders als derjenigen der Wissenschaft, in welcher das Prinzip der Objektivitat manchinal der Subjekt-Ipsigkeit gleichkommt, besteht aus permanenter Dialogart,die ein Auslosen einer aktiven geistigen Tatigkeit des Subjekts, sein standiges Erieben von Situationen, die oft weder Analogien noch Vorbilder hat, voraussetzt. Und dennoch ist auf diesem Gebiet eine Orientierung auf objektive Werte moglich, deren Suche bestimmte Gesetzmassigkeiten aufweist, die allerdings keinen endgultigen Charakter haben.

Die Besonderheit der gegenwartigen Situation in der Wissenschaft besteht darin, dass die sozial-ethischen und humanistischen Probleme nicht zu etwas Ausseremgeworden sind, die bei der Suche nach der Wahrheit ihre ganze Bedeutung nur in ihren technologischen Anwendungenaufweisen. Sie gehen in den eigentlichen «Korper der Wissenschaft»,als sein unbedingter Teil, die «Bedingung des denkbar Moglichen» und die effektive Verwirklichung der Wahrheit ein. Dabei denken wir an die Wissenschaft im ganzen: «die grosse Wissen­schaft» und nicht ihre einzelnen Fragmente und Teilstucke. Diese Probleme beziehen sich auf das, was heute «Werturteile»genannt wird, und sie beziehen sich sowohl auf die logische Struktur des Wissens, die axiologische Grundlage seiner methodologischen Normen, als auch auf die Beziehungen innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Man kann nicht sagen, dass ihre Rolle, im besonderen in der logischen Struk­tur des Wissens und in der Sphare seiner Methodologie nur als konstruktiv erachtet werden kann, da in vielen Fallen von hier allerlei pseudowissen-schaftliche und antiwissenschaftliche Lehren ausgehen. Immerhin kann die wertmassige Orientierung der wissenschaftlichen Erkenntnis, wenn sie objektivmotiviert ist, d.h. sich auch selber als Resultat der wissenschaftlichen Erkenntnis erweist, einen wesentlichen konstruktiven Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaft in ihrer Gesamtheit ausuben. Die marxistische Po­sition besteht darin, dass die wertmassigen, im besonderen sozial-ethischen, humanistischen Prinzipien sich inUbereinstimmungmit dem Gefuge der Erkennt­nis selber, ihrer Orientierung auf die objektive Wahrheit befinden. Der sozial-ethische Neutralismus und Nihilismus sind ebenso unzulassig wie positivistische Appelle zur “Befreiung” von der Philosophie. Inimerhin, ebenso wie die Philosophie wissenschaftlich sein muss, urn einen positiven Einfluss iauf die Wissenschaft auszutiben, konnen sozial-ethische, humanistische Prin­zipien. der Erkenntnis ihre stimulierende, als Katalysator wirkende Rolle auf der Suche nach Wahrheit erfullen, wenn sie fortschrittliche Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung ausdrucken und dem Wohl des Menschen und der Menschheit dienen. Dann konnen sie als echte Regiitofceve. der Wissenschaft auftreten, wie es bei den methodologischen Prinzipien der Erkenntnis der Fall ist.

Diese vielleicht einigermassen allgemeinen Uberlegungen erhalten einen ab-solut konkreten Klang, wenn man sich im besonderen dem Komplex der biomedi-zinischen Forschungen, der wissenschaftlichen Erkenntnis des Lebens und des Menschen zuwendet. Die Rede ist hier von der Zulassigkeit oder der Unzulassigkeit nach moralisch-ethischen und humanistischen Erwagungen dieser oder jener biomedizinischer Experimente, uber die ethischen Prinzipien genetischer Kontrollen, genetisch-technischer Arbeiten, einer Reihe von psychophysiolo-gischen Forschungen, inbegriffen die Psychochirurgie, d.h. solcher Experi­mente, die eine Gefahrdung der Gesundheit des Menschen und seiner Umwelt enthalten und die Gefahr der Manipulation der Personlichkeit in sich bergen, sich gegen ihre integrierenden Freiheiten und Rechte vergehen. Der Komplex der hieher gehorenden Probleme sozial-ethischer und humanistischer Erschei-nungsformen ist ungewohnlich umfassend und spiegelt sich in der Ausarbeitung der verschiedenen Arten ethischer Grundsatze wider, welche die wissenschaft-liche Erkenntnis des Lebens und des Menschen regulieren.

Darauf beschrankt sich jedoch die Sachlage nicht. Die Ethik der Wissenschaft kann sich nicht selber genugen. Sie karm die Funktionen eines Haup^iegu^A^tuA der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht erfullen. Die Wirksamkeit der ethischen Prinzipien muss sich auf bestimmte soziale Gesetzmassigkeiten stiitzen, die oft verschieden und sogar gegensatzlich in den diversen sozialen Systemen sind. Doch gibt es auch allgemeinere globaleKriterien und Einstellungen, die sich in immer hoherem Masse in unseren Tagen bestatigen und die allgemeine soziale Verantwortungder Wissenschaftler vor der Gefahrdung des Lebens selbst und der Menschheit bestimmen. Dies bedingt die Unerlasslichkeit der Erforschung der Soziologie.und der Ethik der Wissenschaft, deren viele Normen sich nicht auf das ethische Niveau beschranken, sondem auch eine juristische, gesetzgeberische Fonngebung in nationalem und intemationalem Massstab erhalten.

Die konipliziertesten Probleme der sozial-ethischen und humanistischen Betrachtungsweise entstehen heute nicht nur im Zusammenhang mit dem Leben des Menschen sondern auch mit dem Tod. «Leben ist ihre schonste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben» sagt Goethe von der Natur.Die Wissenschaft der Gegenwart hat vieles zum Verstandnis derbiologischenBedeutung von Leben und Tod beigetragen, wobei der letztere nicht nur in seinem theoretischen Evolutionsaspekt analysiert wird, sondem auch unter Anwendung der Vorstellungen der gegenwartigen Molekularbiologie. Die Wissen­schaft hat etwas Neues zur Erkenntnis der sozialen Bedeutung von Leben und Tod hinzugefiigt. Ohne diese Bedeutung wurde das spezifisch Menschliche verloren gehen und ein Geheinmis der Urzeiten bleiben. Ausserhalb dieser Pole — des Lebens und des Todes — ist auch das, was sich auf die Zukunft des Menschen in biologischer Hinsicht bezieht, nicht richtig zu verstehen; ebenso ware nicht zu verstehen, was momentan mit dem Problem der Langlebig-keit, der Erhohung der Dauer des Lebens bis zu jenen Grenzen, die — laut einigen Gelehrten, die man horen und lesen kann — manchmal undenkbar, bar jedes vernunftigen Ablauts individuellen Lebens im historischenSein des Menschen und der Menschheit erscheint.

Die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen stutzt sich wesentlich auf die Gesamtheit der Disziplinen und Methoden der biologischen und medizinischen Erkenntnis. Da der Mensch jedoch fur die wissenschaftliche Erkennt­nis in der Gesamtheit seiner biologischen und sozialen Eigenschaften, d.h. nicht nur alsIndividuum,sondem auch als Personlichkeit,hervortritt, be­zieht seine Erforschung, als Teil des gesellschaftlichen Organismus, sozio-logische, verhaltensmassige und humanitare Einstellungen und Msthoden ein.

Sie werden in vielen Fallen auch auf das Problem des Lebens im ganzen uber-tragen, da es — als Objekt der Untersuchung — nicht bis zum Schluss aus den spezifisch menschlichen Beziehungen und Bewertungen ausgeschlossen werden kann, Als Besonderheit des jetzigen Zustandes der Erkenntnis des Lebens und des Menschen bleibt die Tatsache trotzdem bestehen, dass in ihr vorlaufig nur ausserlich diese qualitativ verschiedenartigen Gesichtspunkte undMsthoden sozusagen nebeneinander existieren und «benachbart» sind; mehr als das, figu-rieren sie, wie N. Bohr sagen wurde, «komplementar», d.h. sich gegenseitig ausschliessend iro Prozess der konkreten Untersuchung. Und dies ist tatsachlich so, und damit lasst sich in vieler Hinsicht das Niveau der vorlaufigen Erkenntnis des Lebens und des Menschen erklaren. Es fehit die tatsachliche Komplexitat, und insbesondere erscheint der Mensch deshalb als «zergliedertes Objekt» der Erkenntnis, liber das wir alles wissen konnen, mit Ausnahme dessen, was seine Gesamtheit als biosoziales Wesen und Personlichkeit ausmacht, die vielen intergralen Gesetzmassigkeiten unterworfen ist, «Systemkraften», die in der Wechselwirkung vieler Faktoren biologischen, psychischen und so-zialen Charakters entstehen.

Ich denke, eine negative Rolle spielen nicht nur die rein biologischen Zu-gange, sondem auch die Versuche, den Menschen als ein «Kondensat des Sozialen» darzustellen und die Wechselwirkungen zwischen den sozialen und bio­logischen Faktoren seines Werdens und der Entwicklung aufzuheben. Das Vorhandensein einer solchen Beziehung ist unbestreitbar, und sie wird in einer Reihe von Richtungen der gegenwartige Wissenschaft untersucht. Ich denke hier im besonderen an sog. ethologische Forschungen und ausserdem an die Analyse der evolutionsgenetischen Voraussetzungen der hochsten Ausserungen der menschlichen Eigenschaften. Solche Forschungen wurden bereits von ch. darwin begonnen. In den letzten Jahren werden diese Forschungen im Rahmen der sog.Soziobiologieuntemonroen, deren letzter Versuch, eine genetische Erklarung fur das Auftreten des menschlichen Verstandes und die Vielfaltig-keit der Kulturen zu geben, bestrebt ist, sowie eine Theorie der genetisch-kulturellen Koevolution zu schaffen.

Hier ist nicht der Ort, dieses Modell zu erortern, doch kann ich Folgendes sagen: Die Marxisten sind bestrebt, nicht einfach dieMethodologieder Sozialbiologie als rein biologisch abzulehnen, sondern die zu ihrer Begrundung angefuhrten zahlreichen Fakten aufs genaueste zu analysieren. Damit ist fur mich Folgendes klar: Notwendig ist eine umfassende Entfaltung auf der Grund-lage der marxistischen Methodologie konkreter. und positiver Erforschungen der wechselseitigen Beziehung der sozialen und evolutionsgenetischen Fak-toren im Prozess der Entstehung der individuellen und historischen Entwicklung des Menschen, einschliesslich des Inerscheinentretens aller seiner hochsten geistigen Eigenschaften, die sich in der Kultur, in ethischen Werten der Menschheit usw. kundtun. Selbstverstandlich mussen sich diese Forschungen auf wissenschaftliche Vorstellungen iiber das soziale Wesen des Menschen, uber Dialektik der Mittelbarkeit und der naturbiologischen Wandlung durch das soziale Element, uber Wechselwirkung und Einfluss der sozialen und biologischen Elemente im Menschen stutzen.

An solchen Forschungen mussen Vertreter verschiedener Wissenschaften, mit Einschluss der Genetiker, Neurophysiologen, Psychologen und ebenso der Philosophen, Soziologen, Linguisten, Kulturologen u.a. teilnehmen.

Indem wir irrige Ideen verwerfen, mussen wir nicht annehmen, dass wir bc-reits die Wahrheit in ihrer «letzten Instanz» zu eigen haben. Das humani-stischc Ethos der wahren Wissenschaft setzt mehr alsMenschenliebevoraus. Der Humanismus in der Wissenschaft ist Antifanatismus und Antiautoritarismus. In gleichem Masse ist die Suche nach und die Bekraftigung der Wahrheit wie auch die Erwagung ihres menschlichen Wertes, eine bestimmte ethische Beurteilung, die sich auf den humanistischen Wert bezieht, notwendig. Deshalb sind Diskussionen, Dialoge, die Gegenuberstellung verschiedener Meinungen vom Standpunkt sowohl des Humanismis als auch des Antifanatismus und des Antiautoritarismus das wahre Ethos der echten Wissenschaft. Seine Bedeutung nimmt einen besonderen Sinn an, wenn wir das Problem des Lebens und seiner Erkenntnis prufen.

Ivan T. Frolov.

Komplexe Erforschung des Menschen

Das Problem des Menschen ist ein klassisches Problem der Welt-geschichte der Philosophie. Seit ihren Anfangcn im alien Griechenland nahm die Philosophie nicht nur eine solche Gestalt des Menschen wahr, die dicse oderjene Epoche der Geschichte gepragt hatte, sondern entwickelte auch ein bestimmtes Ideal, eine (ibergreifende «Idee» vom Menschen, die als eine Art Zielfunktion bei der philosophischen Be-schaftigung mit dem Menschen und seiner Zukunft diente. Die Erfor­schung des Problems des Menschen und seiner Zukunft erfordert heutc cine komplexe Vorgehensweise(Methodologie). Diese besagt, daB die Wissenschaft den Menschen und seine Perspektivcn nicht nur im Hin-biick auf einzelne Aspekte (so wichtig sie auch scin mogen) zu untcr-suchen hat, sondem in erster Linie als ein dialektisch zusammenhan-gendes System, wobei dieses System in seiner Dynamik, seiner Man-nigfaltigkeit und seiner Entwicklung zu verfolgen ist. Nur untcr diescr Bcdingung kann man sich Hoffnungen darauf machen, daB die als Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse hcrvorgchenden SchluBfolge-rungen eine realc Bedeutung eriangen und zur Grundlage fur praktischc Empfehlungen bei der Gestaltung der Lebcnstatigkcit und der Entwick­lung des Menschen werdcn. Der globale Charakter des Problems selbst zwingt dazu, nach universellen philosophischen Herangchens-weisen zu suchen, was sowohl zu Entdeckungen, als auch zu ticfcn Enl-tauschungen fuhren kann.

In der wissenschaftlich-philosophischen Litcratur aus vielcn Lan-dern, die zur Zeit einen eigenartigcn «antropologischcn Boom» cricbl, wimmelt es gcradezu von pcssimistischcn SchluBtolgcrungcn in bc/.ug auf die Gegenwart und die Zukunt’t de.s Mcnschcn und dcr Mcnschhcit, insbcsondere im Zusarnmenhang mit den Fortschritten dcr gcgcnwarti-gen Wisscnschaft. Derartige Schliisse beruhcn in der Regel auf dcr tra-ditionellcn Vorstellung, daB dcr Men.sch «eine Schopfung dcr Natur» sei, dazu noch cine recht ungeratenc und die Wisscnschaft sci cin ei-gensinniger «Damon», der ihn keincswcgs bes.scr, verniinftiger, humancr mache. Allerdings gibt es auch entgcgcngesctztc, sozusagen optimisti-sche SchluBfolgerungen, dicjcdoch auf der Absoluticrung derjc «cige-nen Natur» des Menschen basiercn und infolge dcsscn zu cben solchcn cinseitigen Schliissen in bezug auf seine Perspektivcn fuhren.

In dieser Situation tritt unverkennbar das Bcdiirfnis zutage, die Wis­senschaft und den Menschen als ihre Hauptforschungsobjekte in Schutz zu nehmen sowie das Programm der wissenschaftlichen Erforschung des Menschen, seine sozialen und humanistischen MaBstabc, genauer und allseitiger zu bcstimmen.

In den das Problem des Menschen bctrcffendcn Diskussioncn wird vie) Aufmerksamkeit der Frage gewidmct, daB bei dcr Entfaltung dcr wissen-schaftlich-technischen Revolution und dersich immer starker ausbrcitcn-den Konsumierung von deren Resultatcn durch die Gcscllschaftjenc Anzahl von Faktoren wachst, welche die biologische Dcsadaption des Menschen heraufbeschworen, was seine Zukunft bcdrohe. Hierbci gcht es nicht nur um physische, sondem auch um psychischc Faktoren, welche mit der Ver-schmutzung der Umwelt, mit der Verstarkung der nervlichen und psychi-schen Belastungen im ProzeB der Arbeit und in der menschlichen Kommu-nikation verbunden sind, indem sic zu StreB-Zustanden und eincr ganzen Reihe von sogenannten «Zivilisationskrankheitcn» (GcfaB- und Herzkrank-heiten, psychische Storungen, Krebs und viele anderc) fuhren.

Im Grunde genommcn drangt sich dem Menschen immer nachdruckli-cherdas Aniiegcn auf, sich selbst als Gattung zu crhalten, die fahig ist, sich an die veranderten Bedingungcn dcr Umwelt — in sozialcr und na-turlicher Hinsicht — anzupassen sowic das Problem der Adaption gcgcn-liber der Umwelt. Dariibcr hinaus wissen wir, daB die wissenschaftlich-technische Revolution neuc Moglichkcitcn und Mittc] zur Enlwicklung des Menschen als eines biosozialen Wesens schafl’t. Die Mcnschheil hat erstmals in dcr Gcschichtc die Moglichkeit, mit Hilfe dcr medi/.i-nischen Genetik die Last der im Pro/.cB dcr Evolution angcsammelten pathologischen Erblichkeit zu vcrmindcrn und sich von viclcn Erbkrank-hcitcn zu befrcicn, und zwar mittcis des Ausiausches cincs palholoHJ-schcn Gens gcgcn ein normalcs.

Werden dabci der Mensch selbst, seine Biologic und Genctik, sei­ne psychophysiologischen Eigenschaften ciner Umwandlung ausgc-setzt? Wie kann sich das alles auf die physische und geistigc Entwick-lung des Menschen, auf seine Lebenserwartung und auf seine Einstel-lung zum Sinn des Lebens auswirken?

Das ist cines der grundlegenden Problcme unscrcr Zivilisation und es ist ohne Untersuchung dieses Problems unmoglich, die Frage nach der Perspektive des Menschen richtig zu formulieren.

Was die Zukunft anbetrifft, so stehen meiner Meinung nach auf dic-sem Gebiet Ereignisse bevor, und zwar vielleicht die groBten im Vcrlauf der ganzen Geschichte der Wissenschaft, die in das «Zeitalter des Men­schen» eintreten wird, weil sich die wissenschaftliche Erkenntnis dcm Menschen als ihrem Hauptobjekt zuwenden wird. Hierfur sind die der Vemunft und Humanitat entsprechenden sozialen Bedingungen erfordcr-lich, welche auch das neue Ethos der Wissenschaft ins Lebcn rufcn wcr-den. Aufdieser Etappe wird sich wahrscheinlich das Verstandnis fur die Einzigartigkeit des vemiinftigen und humanen Menschen durchsetxen; welche SchluBfolgerungen jedoch sich daraus ergeben — das Urtcil dar-ubcr werden andere fallen. Die Verwirklichung der Projekte zur Andcrung der biologischen Natur des Menschen ist nur auf der Endctappc des «Zeitalters der Biologic» und nach der Erreichung der sozialen Glcich-stellung der Menschen auf Grund humaner Prinzipicn moglich. Dies gerade sollte kiinftig die Losung des Problems seiner biologischen Vervollkommnung entsprechend einem solchen Ideal ermoglichcn, welches der Mensch im Laufe der Geschichte in Sagen und Utopicn geschaffen hat und fur welches er sich kiinftig im Ergebnis der Synthesc von Wissenschaft und Kunst, Vemunft und GCitigkeit, abcrauch Schon-heit cntscheiden wird.

Die Moglichkeiten zur Anderung der mcnschlichcn Individualital mittels genetischer Methoden, der Verpflanzung odcr Regeneration von Organen, der Neurochirurgie Oder Neuropharmakologic stcllcn der Wis­senschaft und der Gescllschaft mit aller Scharfc die Fragc nach den G;i-rantien fur die Erhaltung der kunftigen Generationcn. Hierfur ist cs nol-wendig, zulassige Grenzen bei der Verwendung von genetischcn Griind-stoffen des Menschen als einer biologischen Gattung fcstzulcgen. Dies trifft liberhaupt flirjegliche Einwirkungcn auf seine individucllcn Ei­genschaften zu. AJlerdings kommt diesem Aniicgcn Sensationshascric-rci, mit der viele biologische und medizinische Entdcckungcn der Ict/.-ten Jahrc beglcitet wurden, nicht zugutc. Man dcnkc z.B. nur daran, wicviel Spekulationen angesichts von Versuchcn mil der Vcrpflan/.ung dcr im klinstlichen Medium befruchteten mcnschlichen Eizellc in Umlaut gebracht wurden, sowie bei der gegliickten Geburt des erstcn «Rclor-ten-Babys». Trotz alledem diirfte man selbstverstandlich kcine rcalcn, mitunter auBerst komplizierten Probleme ubersehen, die dabci in Er-scheinung treten und die — wic viele Wissenschaftlicher meinen — cine wesentliche «Umwalzung im Denken», neuc ethischc und gcsctzlichc Bestimmungen verlangen, die dazu dicnen, eine genauc Festlcgung dcr Grenze zwischen zulassigen und unzulassigen Eingriffen in den Bcrcich ethischer, familiarer und intimer Beziehungcn zu gcwahrleisten. Dic.sc Probleme verscharfen sich im Zusammenhang mil dcr Get’ahr cincs rein funktionalen Herangehens an Expcrimentc mit kunstlich erzcugtcn menschlichen Embryonen.

Komplizierte ethische Probleme tauchcn auch bci der Verpflan-zung von Organen auf, beim «Herumexperimenticren» am Menschcn, wie z.B. die Kryogenisation, d.h. das Einfrieren von totkrankcn Men-schen in der Hoffnung auf eine Wiederbelebung und Heilbchandlung, sofern die Medizin entsprechend fortgcschrittcn sein wird.

In dieser Hinsicht wirft die gegenwartigc Wisscnschat’t mit iillcr Scharfe Fragen auf, welche mit der medi/.inischen Ethik vcrhunclcn sind, wobei moralische Verpflichtungen begriindet wcrden, die dem hc-kannten «Eid des Hyppokrates» ahnlich sind.

Insbesondere trifft das furjegliche Manipulationen mit dcm Gchirn und der Psyche des Menschen, seinem BewuBtsein und Vcrhallcn zu, die zu einer «Krise seiner Identitat», d.h. zum Schwund des Eigcnwcrts seiner Personlichkeit flihren konnen.

Es ist schwer vorauszusehen, was die durch die Wissenschafl crol’t’-neten Moglichkeiten dem Menschcn bieten konncn, wclchc ncucn Krafte er in Wirkung setzen wird und wic sich das auf das Lcben uml die Zukunft des Menschen auswirken wird. MiiBte man nicht jcty.l schon allc Anstrengungen untemehmen, obwohl wir erst am Anfang des Wcgcs /.u ncuen unbekannten Geheimnissen stehcn? Wic der «Valer (icr Kybcrnc-tik», N. Wiener, bemerkt hat, der groBte Fchler der Vor;iuss;ii;cn sci eine viel zu enge Projezierung in die Zukunft in bczug auf die hcuti^cn Moglichkeiten der Wissenschaft.

Wenn es um die Gegenwart gchi, dann bcsteht die Aulgabc dcr Wissenschaft, so wic ich sie verstehc, darin, ncue Moglichkeiten des Menschen, die insbesonderc seine psychophysischc Enlwickliing hc-treffen, nicht nur zu erforschcn sowie die ihn heclrohcndcn Richtiini’rn bcim Expcrimentiercn zu vermciden, sondern auch jegliche die wisscn-schaftliche Suche beglcitende Spekulationen und Mystifikationen zu vcrdrangen.

Welche neuen Charakterziige gewinnt das «Zeitalter der Biologic» auf seiner sozusagen antropologischen Etap pe?

Auf dieser Etappe wird die «menschliche Dimensionierung» der Wissenschaft zum entscheidenden Faktor, die Prioritat der huma-nistischen Werte gegeniiber solchen, die rein forschungsbedingt sind, die sozial-ethische Lenkung der Wissenschaft — insbesondere in sol­chen Bereichen, die direkt und unmittelbar dem Menschen zugewandt sind und ihn zum Gegenstand der Forschung machen.

Unter den gegenwartigen Bedingungen nehmen allgemeine Wcr-tungen cine konkrete Gestalt an, insbesondere in Fallen des Experimen-tierens am Menschen. Es sei gesagt, daB ein jegliches Experimentieren am Menschen in gewissem Sinne eine Einmischung in den Bereich der verbrieften Rechte und Freiheiten des Menschen bedeutet. Es kann je-doch unter Kontrolle gehaltcn werden, aber auch im Einklang mil dcm System von moralischen und anderen Werten der Gesellschaft stehcn.

Diese allgemeinen Prinzipien werden im wcscntlichen dadurch bc-dingt, welche Gesellschaft sie anerkennt und in die Tat umsetzt und wic der Mensch selbst und die Grundlagen des Humanism us aufgefaBt wer­den. Jedoch unabhangig von den bestehenden Meinungsverschiedcn-heiten hinsichtlich dieser Probleme liegt heute — wie viele Wissenscha fi­ler glauben — das Bediirfnis nach einem gegenscitig annchmbaren System von internationalen Abkommen vor, welche den biologischen (geneti-schen, medizinischen usw.) ErkenntnisprozeB des Menschen regein konnen. Erforderlich ist eine strenge cthischc Auswertung der Theorie und der Praxis der Forschung und cine soziale Kontrolle, die sich auf staatlichc und internationale Gesetzgebung stiitzcn solltc.

In der heutigen Zeit sieht die Menschheit, wie nic zuvor, mil fe,steni Blick sich selbst an und «entdeckt» hin und wicder den Menschen aufs neue: dabei geschicht das nicht ohne t’reudige Uberraschung und sogar Begcisterung, zuweilen jedoch auch nichi ohne biltcre Enttauschung. Der Mensch sei das einzigartigste und bcwundcmswcrtcste Wescn, die crstaunlichste Schopfung der Natur und Geschichte, seine Zukunfl sei endlos und schon, so behaupten die eincn. Dcr Mensch sei cin Fehlcr der Natur und deren ungluckliche Kreatur, die mil un/.ahligcn Lastern behaftet ist, demzufolge cr keinc Zukunft habe, cr sei dcm Untcrgang geweiht, so meinen die anderen. Wcr soil mil seiner Meinung Rcchi behalten? Wer befindet sich im Irrtum? Moglichcrwcisc sind ahcr wc-der die einen, noch die anderen im Rccht und es gibt cine dritle An-sicht, die die ersteren zwei schlichten und «aufhcbcn» konnte?

Unzahlige Sagen und Legenden, Religionslehrcn und philosophi-sche Systeme, allerlei Vermutungen und phantasievolle Traumereien, Utopien und Antiutopien sind vom Menschen crfunden worden, indem er versuchte, eine Antwort aufdiese qualcnden Fragen zu bekommen, sich selbst, seine Zweckbestimmung und sein Schicksal zu crkcnncn. Als eine kostbare Entdeckung, als Bclohnung nach langcm und qualvol-lem Suchen, nach Hoffnungen und Enttauschungen nimmt dcr modernc Mcnsch -jedoch nicht aufeinmal und ohne Zweifel — die sich ihm eroff-nende Wahrheit entgegen: Der Fortschritt in Wissenschaft und Kultur ist der Schlussel zum Verstehen der menschlichen Probleme, das ist ebcn der «magische Kristall», durch welchen die Perspektiven der Menschheit, die Zukunft des Menschen sichtbar werden. Heute vereinigen sich dcr Fortschritt der Wissenschaft und die Zukunft dcs Menschen in unscrcm BewuBtsein. Anstelle von Mythen und Utopien Iritt ein nachwcisbarcs, objektiv begriindetes Herangehen, eine exakte Entsprechung von Schlus-scn und vorhandenen Tatsachen, das heifit die Wissenschaft.

Gleichzeitig gelangt man immer mehr zu der Einsicht, daB die Ethik dcr Erkenntnis, die Ethik der Wissenschaft an und fur sich nicht in der Lage isl, den Wissenschaftlem einen sicheren KompaB in die Hand zu geben, der im Meer des Unbekannten hilft, sich in die richtige Richtung zu bewegen, von den Bestrebungen der Wissenschaft selbst, von ihrer humanistischen Zweckbestimmung nicht abzukommen. Die Ethik der Wissenschaft ist nicht imstande, die Rolle des ethischen Kodex im weitesten Sinnc zu libcr-nehmen, denn sie selbst ist von sozialokonomischen, politischcn, idcologi-schen und schlieBlich von ethischen, moralischen Faktorcn und Wcrtcn ;ib-hangig, welche stets einen konkret historischen Charaktcr haben und die Entwicklung der Wissenschaft als einer sozialen Einrichtung dcr heutigcn Gesellschaft bestimmen. Die Ethik der Erkenntnis kann nicht als sich selhst geniigend und erst rccht nicht als Hochstwert, als MaB und Garanlic fur allc anderen Werte gelten, well die objektive Wahrheit selbst, die im ProzeB der wissenschafllichen Erkenntnis errungen wird, sich als relativ und kon­kret erweist und sich als ihr hochstcs Kriterium auf die mcnschlichc Praxis, darunter auch auf die gesellschaftlich-hislorische und Produktionspraxis bezieht.

Infolgedessen konncn vielfaltigc kompliziertc Prohlcmc, mil dcncn die gegcnwartige Wissenschaft konfronticrl isl, darunter auch Prohleme cthischcr Art, nur ausgehend von der Logik und der Ethik der Er-kcnntnis selbst, nicht gelost werden. Es ist crfordcrlich, sic mil weit gefaBten sozialen Zielen des Erkenntnisprozesscs und humanistischcn Idcalen, mil ethischen Werten der Gesellschaft als Ganzcs zu verknup-t’cn. Nur das kann den Schliissel zu einer Losung der genannten Proble-me liefern, die den Anforderungen des gcsellschaftlichen Fortschritts, dem Wohl des Menschen und den Bestrebungcn der Wissenschaft selbst gerecht werden konnte.

Das steckt auch die Grenzen fur die Spharc der sozialen Bedeutung der Ethik der Erkenntnis ab. Die wissenschaftliche Tatigkeil libt im allge-meinen einen groBen EinfluB auf das sittliche Verhalten der Menschen, aufdie Moral und Ethik aus, aber auch hier besitzt sic keinen absolutcn und sich selbst geniigenden Charakter, indem sie der allgcmeinen hu-manistischen Orientierung einer freien und allseitigen Entwicklung des Menschen Rechnung tragt. Man kann nicht umhin, der Mcinung von A. Schweizer zuzustimmen, daB die Ethik einc grcnzenlose Vcrantwortung fur alles Lebende ist; die Ethik der Ehrfurcht vor dem Lcbcn setzt groBe Hoffnungcn auf die Steigerung des VcrantwortungsbcwuBtseins des Menschen.

Das neue Ethos der Wissenschaft setzt cine derartigc Struktur vor-aus, die den Menschen, seine freie und allseitige Entwicklung in ihren Mittelpunkt stellt. Sie schlieBt cine immer deutlicher wcrdcnde Selbst-empfindung des Menschen als eines untrcnnbaren Bestandteils der Menschheit cin.

Nur cine solche humanistische Orientierung schat’fl cine fcste Grundlage fur die Zukunft des Menschen und die menschliche Kultur als Ganzes. Der letzteren kommt auch eine breitere Bedeutung zu, wcil der Humanismus nicht mit der Wissenschaft allein vcrbundcn ist. Glci-chermaBcn gefahrlich sind in diescr Hinsicht sowohl die Vcrahsolu-ticrung der Bedeutung der Wissenschaft im Lcben des Menschen und der Menschheit, in der Entwicklung der zukunt’tsorientierten huma-nistischen Kultur, als auch die Versuche, die Wissenschaft hcrabzuset-zen, sie «ihrcs Nimbus zu entklciden» und als einc antihumanc Kraft hinzustcllen. Ihren eigentlichen Sinn erschlicBt sich die Wissenschaft erst im Zusammenhang mit anderen Formen der mcnschlichen Tatig-kcit, die eine materielle und gcistige Kultur der Menschheit bildcn.

Die Kultur braucht naturlich keine «Abmachung» mit dcr Wissen­schaft nach dcr Faustschcn Art, dcren «Damon» gar kcin Verlangen nach der mcnschlichen Seele, dem Gcwisscn und dcr Freihcit des Menschen hegt. Sittliche humanistische Grundlagcn dcr Wisscnschaft und der ganzcn menschlichcn Kultur gewinnen heute immcr mchr an Bcdeu-tung und werden sic auch weiterhin bcwahrcn, dcnn ohnc all das bleibt nur die Finstemis der Unkultur und dcs Nichlscins, die gcistige und korperliche Katastrophe der Menschheil.

Aus der Voraussicht der Zukunft crgibt sich demnach vor allcm die Bestimmungdersozial-ethischen und humanistischen Allcmaliven. Die-scm Aniiegen kommt eine besondere Bcdeutung /.u, wcnn wir uns den realen sozial-ethischen Problemen zuwendcn, die heutzutage durch die wissenschaftlich-technische Revolution hcrvorgcrufen werden. Es han-delt sich in erster Linie und vorzugsweise um dicjenigen Richtungcn der Wissenschaft, die direkt und unmittelbar den Menschen und seine Zu­kunft betreffen. Ihre Betrachtung stellt aus diescm Grundc eine selbstan-dige Aufgabe dar. Sie wird jedoch nicht umfasscnd sein, wenn die Wis­senschaft dabei getrennt von den anderen Bercichen der Kultur, vor ;il-len Dingen von der Kunst betrachtet wird.

Man darfdie realistische Behauptung aufstellen: eine schone und gerechte Zukunft haben dcr Mensch und die Menschheit vor sich, wenn die ihnen eigene Vernunft und Humanitat triumphiercn und die mcnsch-liche Gesellschaft in ihrem Vorwartsstrebcn begleilen. Sic werden ol’fen-sichtlich die Ansicht des Menschen in bezug aufsich selbst revidieren, wie dies vorher schon mehrmals der Fall war. Die Natur hat im Menschen ihre hochste Stufe der komplizierten Beschaffenheit und Rcgulierbarkeit von materiellen Erscheinungen erreicht; sie verkorperte in ihm ein ein-zigartiges Model], in dem sich biologische und soziale, matcriellc und geistige Prozesse organisch vereinigen. SchlieBlich vcrwandelt sich der Mensch aus einer Naturschopfung in cinen Naturtbrscher und cincn immer kliiger und geschickter werdcndcn Naturbchcrrscher, der sich seiner universalen und kosmischen Verantwortung bewuGt ist. Die mo-ralisch-ethische Bedcutung dieser Tatsachc ist crhabcn, dcnn sie kann als cine gewaltige Antriebskraft zur weitercn Erkenntnis dc.s Wcrtcs 1’iir menschliches Leben, Vernunft und Humanitat des Menschen dienen.

Indem der Mensch immer tiefer in unentdeckte Gchcimnissc dcs Welt-alls und in geheimnisvolle Tiefen dcs eigenen Ich eindringi, crtullt cr seine kosmische Zweckbestimmung, behauptet sich gemcinhin als Mensch. Aul diesem Weg baut die Menschheit einen neucn Typ der Zivilistion auf, dcr den eigcntlichen Kraften des Menschen gerecht und ihrer wiirdig isl.

Die Weltgcschichle ist mit Wortcn Hegels kein Schaupliity. 1’iir d;is Gliick. Allcrdings ist er auch nicht fur das Ungliick vorhcslimml. Rs ist notig, das Denken und Handein in den Dienst des Mcnschen und dcr Mcnschhcit xu stellen und dcr Wcg daxu flihrt liber die Errichtung eincr humanistischen und demokratischcn Gcsellschaft, die dcm geistigcn Erbe Europas vcrpflichtet ist.